Yin und Yang gelten als Gegensätze in der chinesischen Philosophie. Yin soll beispielsweise für das Weibliche, Passive, Dunkle, Kalte, Feuchte, … stehen und Yang für das Männliche, Aktive, Helle, Warme, Trockene, … . Ursprünglich bedeutete Yang „in der Sonne wehende Banner“ und Yin „wolkig, bedeckt“.
Beide Aspekte entstanden aus dem einen Ursprung und halten den Mikro- und Makrokosmos im Gleichgewicht. Yin enthält in sich Yang und Yang enthält in sich Yin, wie es auch an dem bekannten Yin-Yang Symbol zu erkennen ist. Wenn Yin an seinem Höhepunkt angekommen ist, steigt Yang auf und Yin ab. Ist Yang auf seiner Höhe, steigt Yin auf und Yang ab. So, oder ähnlich wird es im Allgemeinen in der Literatur gefunden.
Es heißt, dass der Himmel mehr zu Yang und die Erde mehr zu Yin tendiert. So schreibt Ohashi, ein japanischer Shiatsu-Meister in seinem Buch „Körperdeutung, östliche Diagnose und Therapie“: „Der Himmel als Schöpfer aller Dinge ist das aktive Element, also mehr Yang … während die Erde als der empfangende oder aufnahmebereite Teil das passive Element verkörpert, also mehr Yin ist.“
Das scheint zunächst einmal alles sehr klar und logisch zu sein. Aber wie kann es dann sein, dass das erste Jumon des Reiki-Systems, wenn es gechantet wird, Wärme im Erdzentrum verursacht? Das erste Jumon ist der Erde zugeordnet, die Erde ist Yin, und der Logik nach dürfte deshalb keine Wärme entstehen, sondern eine kühle Empfindung. Ganz so einfach, wie es oben beschrieben ist, scheint es mit Yin und Yang nicht zuzugehen. Je tiefer wir in diese Thematik einsteigen und uns darauf einlassen umso erstaunlicheres kommt an die Oberfläche.
Worum es wirklich geht
Der Taoist Kwan Saihung machte seinem Schüler Deng Ming-Dao deutlich, dass Yin und Yang aus mangelndem Verständnis heutzutage in Büchern meist falsch dargestellt wird. Yin und Yang gibt es natürlich nicht in isolierter Form (dann wären sie nicht existent), aber wir können die Philosophie dahinter besser nachvollziehen, wenn wir die Kräfte einmal getrennt voneinander betrachten: „Yang ist sehr stark, hat aber in seiner reinen Form keinen Antrieb, keine Motivation. Deshalb ist es statisch, ohne Yin kann es sich nicht bewegen. Yin wiederum hat ohne Yang weder Form noch Richtung. … Dann ist Yin also Bewegung, und Yang ist Stille …“ (aus Deng Ming-Dao: Aufbruch zu fernen Ufern, Erfahrungen des Taoisten von Huashan in der neuen Welt). Hier wird also sehr klar, dass wir die Yang-Kraft nicht einfach, wie in der heutigen Literatur üblich, als Aktion … sehen können und Yin nicht einfach als Passivität … .
Ohashi beschreibt in dem schon oben genannten Buch „Körperdeutung, östliche Diagnose und Therapie“, die Grundsätze von Yin und Yang. All die Kräfte, die vom Himmel auf die Erde kommen, wie beispielsweise das Licht der Sonne und der Sterne, die kosmische Strahlung, … wurden von den alten Weisen Yang genannt. Weiterhin sagt Ohashi, dass man sich die Yang-Kraft als eine Spirale vorstellen kann, die sich „in Richtung Mittelpunkt zusammenzieht und immer enger wird“. Erkennen wir hier nicht einen bildlichen Zusammenhang mit dem ersten Shirushi? Die Energie kommt vom Himmel (als Yang-Kraft) auf die Erde (Yin) herab und verdichtet sich dort. „Die Yang–Kraft bewirkt ganz allgemein, dass sich die Dinge zusammenziehen und näher an der Erde bleiben. Die Schwerkraft ist ein gutes Beispiel für Yang. Die alten Weisen erkannten aber auch, dass die Erde selbst einen völlig anderen Charakter hat. Sie dreht sich um die eigene Achse und schleudert dadurch Energie nach außen und nach oben gegen den Himmel. Die Weisen gaben dieser Kraft den Namen Yin. Sie hat eine expansive Wirkung. … Alles, was sich von der Erde aus entfaltet und ausdehnt, wird zu Yin, während das, was auf die Erde niedergedrückt wird, zu Yang wird.“
Die alten Weisen
Schauen wir doch einmal, was zwei der alten Weisen uns in Schriften hinterließen (die Anmerkungen in den eckigen Klammern sind zum besseren Verständnis zugefügt):
Aus dem Dschuang Dsi: „Das dunkle Prinzip [Yin] in seiner höchsten Wirkung ist ernst und still; das lichte Prinzip [Yang] in seiner Vollendung ist mächtig und wirksam. Das Ernste und Stille geht aus dem Himmel [der mehr zu Yang tendiert] hervor; das Mächtige und Wirksame entsteht aus der Erde [die mehr zu Yin tendiert].“
Wenn wir nun die Sätze etwas umstellen, erkennen wir besser, dass die Kräfte sich an ihrem Höhepunkt wandeln und sich gegenseitig bedingen: „Das dunkle Prinzip [Yin] … ist ernst und still … Das Ernste und Stille geht aus dem Himmel [mehr Yang] hervor …“ und „das lichte Prinzip [Yang] … ist mächtig und wirksam … das Mächtige und Wirksame entsteht aus der Erde [mehr Yin].“
Meister Liä schrieb: „Das Reine und Leichte [Yin] steigt empor und wird zur unsichtbaren Welt, zum Himmel [Yang]. Das Trübe und Schwere [Yang] senkt sich herab und wird zur sichtbaren Welt der Erde [Yin]. … des Himmels Funktion ist es zu zeugen und zu schirmen, der Erde Funktion ist es zu gestalten und zu tragen … Was durch das Zeugen erzeugt wird, ist der Tod; aber das, wodurch das Zeugen zum Zeugen wird, ist noch nie zu Ende gekommen. Was durch das Gestalten gestaltet wird, ist die Masse; aber das, was durch das Gestalten zu Gestalten wird, ist noch nie ins Dasein getreten …“
„Das Reine und Leichte [Yin] steigt empor und wird zur unsichtbaren Welt, zum Himmel [Yang]. Das Trübe und Schwere [Yang] senkt sich herab und wird zur sichtbaren Welt der Erde [Yin].“ Hier kann man wieder sehr gut erkennen, wie die Kräfte sich wandeln und zusammenwirken.
„… des Himmels Funktion ist es zu zeugen und zu schirmen, … Was durch das Zeugen erzeugt wird ist der Tod …“. Was durch die Yang-Kraft des Himmels auf der Erde erzeugt wird, lebt nicht ewig, sondern wird sterben.
„… aber das, wodurch das Zeugen zum Zeugen wird, ist noch nie zu Ende gekommen …“. Die Yang-Kraft selbst stirbt jedoch niemals.
„… der Erde Funktion ist es zu gestalten und zu tragen … Was durch das Gestalten gestaltet wird, ist die Masse …“. Das, was sich durch die Yin-Kraft der Erde ständig verändert, wächst und formt, sind die materiellen sichtbaren Dinge.
„… aber das, was durch das Gestalten zu Gestalten wird, ist noch nie ins Dasein getreten …“. Die kreative Kraft des Yin an sich ist aber unsichtbar.
Eine Zusammenfassung
Yin und Yang stellen die Ursache dar für den stetigen Wechsel der Energien. Beide bedingen und ergänzen einander perfekt. Beide Kräfte gibt es nicht isoliert in reiner Form, sondern jede trägt die polare Entsprechung seines Gegenstücks schon in sich. Die Himmelsenergie erhält von Yin den aktivierenden Impuls ihr Licht auszustrahlen und kann deshalb schöpferisch aktiv sein. Ansonsten wäre sie zwar stark, aber statisch und unbewegt. Die Erdenergie erhält ihre Festigkeit durch die strukturierende Lichtkraft des Äthers. Ohne diese würde sie ziellos aktiv sein.
Der Himmel, das aktive Element, ist Schöpfer allen Daseins und entspricht in seiner Funktion überwiegend Yang. Die Erde, der empfangende, aufnahmebereite und passive Teil entspricht in seiner Funktion vorwiegend Yin. Aber, in seiner reinen Form wäre Yang (Himmel) ohne Yin still, strukturiert und statisch. Ein reines Yin (Erde) ohne Yang dagegen entspräche einer ungezielten Aktivität/Bewegung, einem vor-sich-hin-brodeln.
Die lichte Kraft von Yang kommt von oben auf die Erde herab (Shirushi und Jumon 1) und wird auf die Erde niedergedrückt. Sie macht Leben auf der Erde überhaupt erst möglich. Diese Urkraft ist schöpferisch, zusammenziehend, warm, schwer und aktiv. Sie kann als Spirale dargestellt werden, die in Richtung Mittelpunkt enger wird. Auf dem Höhepunkt ihrer Wirkung, wandelt sich die Energie von Yang in Yin. Dieser Vorgang ist sehr kraftvoll und mächtig. Er macht es möglich, dass etwas in Erscheinung tritt und wahrnehmbar wird.
Die dunkle, verhüllende Kraft Yin steigt von der Erde nach außen und oben in den Himmel auf (Shirushi und Jumon 2). Diese Urkraft ist empfangend, ausdehnend, kühl, leicht und passiv. Auf ihrem Höhepunkt wandelt sich diese Energie in Yang um. Dieser Vorgang fühlt sich ruhig, licht, leicht und spirituell an. Er hat mit Loslassen, Auflösung, Zerfall und Tod zu tun. Alles kehrt wieder zu seinem geistigen Ursprung zurück.
Die ersten beiden Jumon und Shirushi enthalten also jeweils sowohl Aspekte von Yin als auch von Yang. Sie sind nichts greifbares, sondern stellen einen Vorgang dar, mit dessen Hilfe wir unsere Einstellungen verändern können. Damit gleichen sich unsere Energien aus und werden harmonischer.
Das erste Jumon/Shirushi
Die Beschäftigung mit Yang, mit Hilfe des ersten Jumon, hilft uns Materie (Yin) generell wie auch unseren Körper als verdichtete Energie zu empfinden. Denn die Wahrheit über die Erd-Energie ist, dass sie nicht lediglich nur über die Sinne wahrnehmbare Materie darstellt. Wie können wir wahrhaftig zu Erd-Energie werden? Wir sollten das Licht sozusagen verkörpern oder sichtbarmachen, durch weises, liebevolles Handeln und zu dem stehen, was wir wirklich sind: personifiziertes Licht. Wenn wir um unsere Herkunft aus dem Licht „wissen“, können wir in der Welt besser im Auftrag des Lichtes handeln und unsere im Inneren verborgene Kraft kann zum Ausdruck kommen.
Yang-Energie ist schützend und schirmend, energetisierend und aktivierend; sie gibt uns im positiven Sinne Halt und Geborgenheit. Um auf der Erde überleben zu können, brauchen wir eine Menge Yang-Energie. Wir müssen arbeiten um unseren Lebensunterhalt zu verdienen und brauchen in jeder Hinsicht eine große Portion aktiven Einsatz ohne den ansonsten einfach nichts Konstruktives geschehen würde.
Wird die Yang-Kraft negativ umgesetzt, steht sie für hitzige Emotionen wie Zorn, Ärger und Aggressionen. Wenn wir derartig reagieren, haben wir zumindest für den Moment vergessen woher wir eigentlich kommen und sind nur auf die Welt der Sinne ausgerichtet. Dann kann uns ein positiver beruhigender Yin-Impuls den benötigten Ausgleich bringen um mit den Erdenergien wieder in Einklang zu kommen. Das erste Jumon oder Shirushi kann uns diesen Impuls geben. Als Kind des Himmels (Yang) setzen wir unsere Kraft auf der Erde (Yin) friedlich ein.
Das zweite Jumon/Shirushi
Wenden wir uns nun mit Hilfe des zweiten Jumon der Yin-Energie zu. Ein Leben im Einklang mit der Erdenergie (Yin) unterstützt uns das Innere wahrzunehmen, uns dem unsichtbaren Höheren, der himmlischen Energie (Yang) zuzuwenden. Dann sind wir immer mehr in der Lage urteilsfrei und mitfühlend unsere noch verborgenen inneren Fähigkeiten zu erkennen sowie die anderer. Yin-Energie ist öffnend, lösend und befreiend. Sie eröffnet uns einen Zugang zum Nichtfassbaren.
Während der Nacht (Yin) wenden wir uns gewöhnlich den geistigen Bereichen (Träume, Visionen) zu. Wer hat nicht schon in der Dunkelheit der Nacht (Yin) draußen gestanden und sehnsuchtsvoll in den klaren Sternenhimmel (Yang) geschaut? Im Kapitel 42 des Tao Te King, sagte Laotse: „Alle Dinge haben im Rücken das Dunkle und streben nach dem Licht, und die strömende Kraft gibt ihnen Harmonie.“
Im negativen Sinn steht Yin für kalte Emotionen wie Ängste, Sorgen, Frustration, Missmut, Geiz und Traurigkeit. Wenn wir uns mit der falschen Motivation (urteilend und ohne Mitgefühl) nach innen zurückziehen, haben wir keinen Gewinn, sondern blockieren uns selbst. Wir brauchen dann einen positiven aktivierenden Yang-Impuls um mit unserem Inneren wieder ins Gleichgewicht kommen. Diesen Impuls kann uns das zweite Jumon oder Shirushi geben. Es sagt uns: „Lasse los (Yin) und habe Vertrauen in eine höhere Macht, die dich beschützt (Yang). Du bist nicht alleingelassen.“
Die Lebensregeln
Es ist wirklich sehr interessant: auch wenn wir uns mit der Bedeutung von Yin und Yang auseinandersetzen, finden wir die Lebensregeln von Mikao Usui wieder. Also ärgern (negative Yang-Energie) und sorgen (negative Yin-Energie) wir uns besser nicht, sondern arbeiten an uns selbst um Erd- und Himmelsenergie in Einklang zu bringen und freundliche, mitfühlende Menschen zu sein. Wenn die Energien von Yin und Yang in uns ausgeglichen sind, wenn auch zunächst nur für kurze Zeit, gibt es weder Ärger noch Sorge und wir finden ganz von selbst zur Einheit.
„Der Mensch richtet sich nach der Erde.
Die Erde richtet sich nach dem Himmel.
Der Himmel richtet sich nach dem Ursinn.
Der Ursinn richtet sich nach sich selber.“
(Laotse, Tao Te King, Kap. 25)